Prolog
Istanbul, Türkei, August 2002
Während Lea vor der Suite Nummer 18 stand und darauf wartete, dass jemand auf ihr Klopfen reagierte, ließ sie den Tag Revue passieren. Es schien alles zu schön, um wahr zu sein. Ihre Ausstellung in der Istanbul New Art Gallery hatte all ihre Erwartungen übertroffen - das Interesse an ihren Fotografien war größer denn je. Ihr Agent hatte vier ihrer Lieblingsarbeiten verkauft, dazu noch einige andere.
Das Leben hätte gar nicht besser sein können.
Beruflich ging es aufwärts, und in sieben Monaten würde sie heiraten. Sie wollte nach Schottland fliegen, um sich mit David, der kürzlich eine Stellung als Dozent an der University of Edinburgh ergattert hatte, eine Wohnung zu suchen. Alles, was sie sich erträumt hatte, schien wahr zu werden. Das Einzige, was ihr jetzt noch fehlte, war ihre Reisetasche, die von der Rezeption versehentlich auf ein falsches Zimmer geschickt worden war. Sie seufzte müde.
Sie gehörte ins Bett. Obwohl, nach all dem Stress werde ich wohl kaum schlafen können, dachte sie und klopfte erneut.
Zu dumm, dass die Suite belegt war. Und noch dümmer, dass es schon so spät war. Wahrscheinlich würde sie jemanden aufwecken. Und sie hatte keine Lust, sich mit einem vergrätzten Hotelgast anzulegen.
Nun hörte sie drinnen Geräusche. Sie pflasterte ein Lächeln aufs Gesicht und nahm ihre Highheels, die sie im Aufzug ausgezogen hatte, von der linken in die rechte Hand.
»Ja, bitte?«
Sie hörte die tiefe Stimme, noch bevor sie den Mann sah. Ein Kribbeln durchlief sie, und ihre Finger zuckten unwillkürlich. Sie kam sich vor wie in einem James-Bond-Film. Ein wahres Prachtexemplar von einem Mann stand, nur mit einem knappen Handtuch bekleidet, vor ihr und rubbelte sich mit einem zweiten Handtuch die Haare trocken. Fehlte nur noch, dass sie statt ihres Koffers ein paar Geheimakten abholen sollte ...
Lea musste bei diesem absurden Gedanken unwillkürlich schmunzeln. Aber vielleicht hatte er ja nur einen fantastischen Body. Und ein Pferdegesicht. Besagtes Gesicht hatte sie nämlich noch nicht gesehen, da es immer noch unter dem Handtuch steckte. Sie wartete und tappte dabei ungeduldig mit einer rotlackierten Zehe. Nun ja, das Warten war keine Qual, wenn sie ehrlich war. Diese Brust ... muskulös, aber nicht übertrieben aufgepumpt wie bei einem Bodybuilder. Schmale Hüften. Beine, die auch in kurzen Hosen nicht schlecht ausgesehen hätten.
Als ihr klar wurde, dass der gute Mann so schnell nicht unter seinem Handtuch hervorzukommen beabsichtigte - und David wäre es sicher nicht recht gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sie sabbernd die Körper anderer Männer anstarrte -, versuchte sie es mit einem fröhlichen »Hi!«.
Die kräftig-schöne Männerhand mit dem Handtuch sank langsam herab. Top Ten, dachte Lea. Nein, korrigierte sie sich sogleich, Top Drei. Leuchtend blaue Augen musterten aufmerksam ihr Gesicht, ihr knappes schwarzes Cocktailkleid, ihre nackten Füße.
»Ja, bitte?«, wiederholte er.
Sein Ton war distanziert, seine Miene höflich-entgegen-kommend - kein lüsterner Blick oder etwas Ähnliches.
Das gefiel Lea. Sie war beeindruckt, nein, mehr als beeindruckt. Er machte sie neugierig ... was ungewöhnlich war.
Denn Lea hatte nach ihrem Studium mit dem Fotografieren von aufstrebenden Models begonnen. Sie war an schöne Menschen beiderlei Geschlechts gewöhnt. Natürlich wusste sie einen schönen Menschen zu schätzen - aber neugierig machten sie nur die wenigsten.
»Tut mir leid, dass ich Sie so spät noch störe«, sagte sie entschuldigend, »aber meine Reisetasche ist offenbar bei Ihnen gelandet.«
Als er das hörte, entspannte er sich sichtlich. Ein Lächeln umspielte seine Lippen - ein Lächeln, das eine schwächere Frau, als sie es war, glatt von den Füßen gehauen hätte. Immerhin: Er rückte sofort einen Platz höher auf ihrer mentalen Top-Ten-Liste. Obwohl, wer im Vergleich zu ihm Nummer Eins sein sollte, war ihr schleierhaft. Ein Frauenheld, so schätzte sie ihn ein. Sobald ihr das klar wurde, grinste sie belustigt. Weiberhelden ließen sie kalt, schon immer.
»Kleine schwarze Reisetasche?«, erkundigte er sich.
Lea bemerkte einen ganz leichten britischen Akzent, aber keineswegs übertrieben, so wie Davids englische Kollegen in Boston, die mit »uuuh Darlings!« nur so um sich warfen.
»Genau«, bestätigte sie.
Er verschwand im Nebenzimmer und tauchte kurz darauf in einer Designerjeans und mit ihrer Reisetasche in der Hand wieder auf. Wie war es bloß möglich, dass er jetzt, wo er mehr anhatte, noch besser aussah?
»Danke«, sagte Lea und nahm ihm die Tasche ab. Dabei streiften sich ihre Finger. Seine Hände waren kühl von der Dusche. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie gut sie sich auf ihrer überhitzten Haut anfühlen würden.
Definitiv Zeit zu gehen.
Sein Lächeln wurde breiter, und jetzt sahen seine Augen eher grau als blau aus. Lag das am Licht? Sein Blick war viel zu wissend...
»Möchten Sie auf einen Drink reinkommen?«
Er schien sich mit dieser Frage ebenso überrascht zu haben wie sie. Lea schüttelte sofort den Kopf - auch wenn sie sich dafür hätte ohrfeigen können. Sie wurde zunehmend nervös. Einfach lächerlich!
»Nein, aber trotzdem danke«, sagte sie und schenkte ihm ein letztes Lächeln. Dann wandte sie sich ab und ging.
Adam schloss die Tür vor dieser Vision im knappen schwarzen Cocktailkleid. Er war froh, dass sie seine Einladung abgelehnt hatte. Was war nur in ihn gefahren? Er war doch sonst nie leichtsinnig, wenn er in einer Mission unterwegs war - selbst wenn die Versuchung von einer Frau ausging, die so fantastisch aussah wie diese Besucherin. Gewöhnlich verhielt er sich viel vorsichtiger, weshalb er auch einer der besten Friedenshüter im House of Order war.
Er wandte sich von der Türe ab und ging ins Schlafzimmer, begleitet von ihrem betörenden Duft. Ein blumiger Duft. Jasmin? Adam lächelte. Ja, das musste es sein. Ein Nachtblüher. In vielen Kulturen galt sie als die Blume der Vampire. Nun, seine nächtliche Besucherin war definitiv keine von ihnen. Aber umwerfend, wie er sich eingestehen musste. Kurzes schwarzes Haar, von Expertenhand geschnitten, hellgrüne Augen, dichte schwarze Wimpern.
Ein Mund zum Küssen.
Verdammt.
Wenn er nicht dieses amüsierte Lächeln an ihr bemerkt hätte, dieses humorvolle Funkeln in ihren Augen, hätte er sich überhaupt nicht für sie interessiert. Er hatte in seinem langen Leben schon Hunderte von attraktiven menschlichen Frauen kennen gelernt und ging ihnen gewöhnlich aus dem Weg - aber so stark wie jetzt war die Versuchung noch nie gewesen.
Nein, Ablenkungen konnte er im Moment weiß Gott nicht gebrauchen. Adam gab sich einen Ruck und schlüpfte in ein schwarzes T-Shirt, das er aus seiner schwarzen Reisetasche fischte. Dann nahm er den schwarzen Samtbeutel, der auf seinem Bett lag, zur Hand, zog die Schnur auf und ließ den Inhalt in seine Handfläche fallen. Ein dicker goldener Anhänger mit rotfunkelnden Rubinen und weißen Diamanten: Feuer und Eis. Er hob den Anhänger an der Kette hoch und beobachtete, wie er sich im Licht drehte. Das goldene Medaillon ging mühelos auf. Darin steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier.
Adam wusste, auch ohne das Papier auseinanderzufalten, dass er den Inhalt nicht würde lesen können - ein Vampir-Oberhaupt hatte den Brief vor über hundertfünfzig Jahren in osmanischem Türkisch an seine Frau geschrieben. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, das Medaillon mit dem Brief sicher im House of Order abzuliefern.
Der erste Teil seiner Mission war gelungen: Er hatte das Medaillon aus dem Topkapi Palace Museum gestohlen.
Jetzt musste er es nur noch außer Landes schmuggeln.
Mit langen Schritten ging er ins Wohnzimmer der Suite, nahm das Telefon von der Aufladestation und wählte eine Nummer.
»Büro von Lord Bruce. Was kann ich für Sie tun?«
Seine Mundwinkel zuckten. »Müssen Sie ihn denn immer Lord Bruce nennen?«
»Ach, Sie sind's, Mr. Adam!«
Adam konnte das Lächeln am anderen Ende der Leitung fast sehen. Sybil, Lord William Bruces Bollwerk von Sekretärin, war eine ungeheuer gut gelaunte Person. Sie war so gut gelaunt, dass keiner mit dem Tornado rechnete, der über einen kam, wenn man einen Fehler beging. Nicht, dass Adam je eine der gefürchteten Standpauken von Sybil erhalten hätte. Immerhin war er ihr erklärter Liebling.
Und er machte nie Fehler.
»Miss Sybil, es ist mir wie immer ein Vergnügen, Ihre reizende Stimme zu hören.«
»Sie Charmeur! Aber warten Sie, sind Sie nicht irgendwo im Nahen Osten? Da muss es doch schon furchtbar spät sein!«
»Ist es auch«, sagte Adam mit einem Blick auf seine Uhr.
»Aber ich hab's eilig. Könnte ich William sprechen?«
»Nun ja, er ist zwar gerade in einer Konferenz, aber ich bin sicher, für Sie macht er eine Ausnahme! Momentchen, Mr. Adam!«
Nur wenige Sekunden später dröhnte Williams besorgte Stimme durchs Telefon. »Was ist passiert?«
»Sollte man mit hundertdreißig nicht ein klein wenig gelassener sein?«, fragte Adam spöttisch. Er wusste, dass er seinen Boss mit dieser kleinen Stichelei mehr beruhigte, als wenn er ihm dreimal versichert hätte, dass alles in Ordnung war.
»Hunderteinunddreißig, Adam. Aber wer zählt schon?
Also, was ist los?«
Adam rieb sich den Nacken und schaute sich prüfend um. Er durfte nichts vergessen. Hier im Wohnzimmer verrieten nur das Handy und eine offene Scotchflasche aus der Minibar, dass er hier gewesen war.
»Alles in Ordnung, ich habe das Medaillon. Aber es gibt Komplikationen. Ich muss einen anderen Fluchtweg finden.«
»Wie können wir helfen?«, fragte William sofort. Wie bei allen Mitgliedern des House of Order stand für ihn die Pflicht an erster Stelle.
»Ein Boot. Schickt es zum Cigran Palast auf dem Bosporus. In zwei Stunden.«
Kurze Stille, dann: »Wohin willst du?«
»Nach Athen. Von dort brauche ich ein Flugzeug nach Washington.«
»Alles klar. Sybil wird dir unseren Jet schicken; morgen früh ist er dort. Und um das Boot kümmere ich mich persönlich. Alle weiteren Einzelheiten erfährst du in wenigen Minuten. Bis bald, mein Freund.«
Adam legte auf, dann nahm er ohne weitere Verzögerungen seinen Pass und seine Brieftasche vom Nachtkästchen und schob sie zusammen mit dem kostbaren Medaillon in die Innentasche seiner Jacke. Er griff sich seine schwarze Reisetasche und verließ die Suite. Er wollte auschecken und sich ein paar Blocks vom Hotel entfernt ein Taxi nehmen - falls die Behörden seine Spur bis zum Hotel zurückverfolgen sollten. Dann würde er wieder zurückkommen und vom Park aus den herrlichen Ausblick über den nächtlichen Bosporus genießen, bis das Boot eintraf.